Prolog für den Wandel


Da lob ich mir den Wandel

Der Wandel durchdringt die eine Evolution sowohl auf unabhängigen "Wegen" als auch fast gleichzeitig, da es indirekte Beziehungen zwischen diesen Wegen gibt. Und er kann sich auch über Grenzen (wenn auch nicht direkt) "hinwegsetzen".

Seit den siebziger Jahren des vorigen Jahrhunderts leben wir in der Phase der wissenschaftlichen Postmoderne, in der alte Evolutionstheorien erweitert wurden und neue hinzukamen. Dabei stieg die Zahl der Theorien noch nicht so stark an, so dass jeder seine individuell zugeschnittene Evolutionstheorie besitzen konnte.
    Die Phase der Postmoderne löste die Phase der wissenschaftlichen Moderne mit ihren Standardtheorien ab. Ein Grund dafür war, dass es der Evolutionsbiologie gelang, ihren Gegenstand Organismus präziser als zuvor in ihrer Standardtheorie darzustellen. Diese Präzisierung ist zwar notwendig, aber sie reicht nicht aus, um die eine Evolution und damit den Wandel vielschichtig zu begründen.
    Die Postmoderne fördert den Pluralismus und damit eine Vielfalt, bei der von allem zuviel vorhanden ist. Sicher ist eine Vielfalt unentbehrlich. Aber muss deshalb die Evolutionsbiologie mit Theorien "zugemüllt" werden, so dass viele Studenten und Wissenschaftler nicht mehr erkennen können, wie sich die eine Evolution auf der Erde vollzieht?
    Hier zeigt sich: Aus Überfluss entsteht Mangel und aus einer beliebigen Vielfalt Einfalt. So kann sich der Wandel im wissenschaftlichen Denken, mit dessen Hilfe der Wandel in der Wirklichkeit nachgestellt werden soll, nicht vollziehen. Dies gleicht einer Bewegung in einem Hamsterrad. Wer in diesem noch so schnell rennt, kommt trotzdem nicht vorwärts.
    Da lob ich mir den Wandel, mit dessen Hilfe die Vielfalt oder Komplexität, die nicht beliebig ist, erkannt werden kann. Damit kann der Wechsel von einem Moment dieser Komplexität zum nächsten begründet werden. Dazu wird eine Kombination von mehreren, aber voneinander unabhängigen Theorien verwendet, die indirekt miteinander in Beziehung stehen.

Die Vorstellung eines vielschichtig verstandenen Wandels wird auch von den konträren Vorstellungen des stetigen und des sprunghaften Verlaufs in der Evolution beeinflusst. Zwar lässt sich - im übertragenen Sinn - mit jeder der beiden konträren Vorstellungen voraussagen, wieviel eine Stellschraube nach rechts oder nach links gedreht werden muss, um Prozesse zu beeinflussen. Aber es kann nicht begründet werden, ob sie entweder nach rechts oder nach links gedreht werden muss.
    Ein Beispiel für den Pluralismus ist der Dualismus vom stetigen und sprunghaften Verlauf in der Evolution. In beiden Vorstellungen werden Gegensätze negiert, lassen sich die Stellschrauben also beliebig nach rechts oder nach links drehen. Mit Hilfe des Pluralismus kann nur jeweils ein bestimmter Bereich einer vielschichtig verstandenen Evolution begründet werden.
    Nach der Vorstellung der Dialektik von Diskontinuität und Kontinuität (der stetige Verlauf wird nicht unterbrochen, sondern in andere Bahnen gelenkt) lässt sich begründen, wann die Stellschrauben nach rechts und wann nach links gedreht werden. Aber auf der Basis dieser Vorstellung lässt sich nicht voraussagen, wieviel diese nach links oder rechts gedreht werden müssen.
    Jede der genannten Vorstellungen hat ihre Vor- und Nachteile, so dass auf keine verzichtet werden kann. Aber die Anhänger dieser Vorstellungen schränken deren Geltungsbereich nicht ein. Damit behaupten sie implizit, dass sie den Verlauf der Evolution ausschließlich mit ihrer jeweiligen Vorstellung erklären können.
    Da lob ich mir den Wandel, dass voneinander unabhängige Theorien jeweils einen begrenzten Geltungsbereich besitzen, der sich mit anderen Geltungsbereichen nicht überschneidet. In einer gestalteten Kombination aus Theorien können sich die einzelnen Theorien besser spezialisieren, als dies in einer einzelnen Theorie oder in einem "Sammelsurium" aus Theorien möglich ist.

Mit Hilfe der Vorstellung des Wandels kann die Evolution vielschichtig verstanden werden. Dieser Wandel stößt an Grenzen, kann sie überwinden, wobei immer neue Grenzen entstehen. Und Grenzen gibt es viele, die aber wie bei der Metamorphose des Schmetterlings - vom Ei über die Raupe und Puppe bis zum Falter - aufgehoben werden. Bei der Selbstzerstörung des Einen entsteht schon das Andere.
    Auch im Folgenden existieren Grenzen: Das Erscheinen bei einer mündlichen Prüfung ist eine notwendige, aber keine hinreichende Bedingung, um diese zu bestehen. Die (unbelebte) Materie ist eine notwendige, aber keine hinreichende Bedingung für die Eigenentwicklung der Pflanzen und Tiere. Die (unbelebte) Materie, die Pflanzen und Tiere sind notwendige, aber keine hinreichenden Bedingungen für die Entwicklung der menschlichen Gesellschaft.
    Wer Geltungsbereiche (von Vorstellungen) und Wirkungsradien (von realen Prozessen) nicht bestimmt, ist zwar in der Lage, für einen Teil der Wirklichkeit Aussagen zu begründen. Aber mit diesen Aussagen können die anderen Teile der Wirklichkeit nicht nachgestellt werden, so dass diese Vorstellungen oder Theorien trotz einiger wahrer Aussagen insgesamt zu "Glaubenswerken" werden.
    In diesen Theorien, die keinen universellen Geltungsbereich besitzen, werden "universelle" Aussagen gemacht, wie zum Beispiel die, dass sich die Natur stetig verändert. Das ist so rational gedacht, dass es schon wieder irrational wird, da andere Perspektiven ausgeblendet werden. Oder anders ausgedrückt: Wer zu lange in die Sonne oder in seine heiß geliebte Theorie "sieht", wird blind.
    Da lob ich mir den Wandel, dass Materie etwas Eigenes besitzt, ebenso wie die Prozesse des Lebens oder die Prozesse der menschlichen Gesellschaft. Auch im Vielzeller entsteht - im Vergleich zum Einzeller - etwas Eigenes, so dass keiner von beiden in seiner Eigenentwicklung auf den anderen reduziert werden kann, auch wenn der Vielzeller aus vielen Einzellern besteht.

Viele Wissenschaftler vertreten hierarchische Vorstellungen wie zum Beispiel die, dass die physikalisch-chemischen Prozesse die Entwicklung des Lebens bestimmen und diese Prozesse wiederum die menschliche Gesellschaft. In solchen Vorstellungen wird der Wandel unterdrückt, so dass hier (aber auch in der Vorstellung einer reinen Hierarchielosigkeit) prinzipiell alles bleibt, wie es ist.
    Dies trifft auch für Vorstellungen zu, wonach die Organismen sich entweder nur stetig oder nur sprunghaft verändern oder entweder das Ganze die Teile oder die Teile das Ganze bestimmen. Und dies gilt auch für Vorstellungen, wonach entweder die Eigenentwicklung die Fremdeinflüsse dominiert oder umgekehrt, dass es nur einen Ursprung gibt oder nur viele.
    So werden, wenn nur der stetige oder nur der sprunghafte Verlauf erkannt werden soll, Hierarchien (wie ausgrenzende "Gewinner-Verlierer-Strukturen") benötigt. Wenn aber die indirekte Verknüpfung zwischen beiden Vorstellungen mit ihren jeweils begrenzten Geltungsbereichen begriffen werden soll, ist eine Hierarchielosigkeit (wie einbeziehende "Gewinner-Gewinner-Strukturen") erforderlich.
    Sowohl für das Ausgrenzen als auch für das Einbeziehen ist eine Mehrfachstrategie notwendig, bei der die voneinander unabhängigen Vorstellungen (wie zum Beispiel konträre) zunächst jede für sich gedeutet und danach die indirekten Verknüpfungen zwischen ihnen begriffen werden.
    Da lob ich mir den Wandel, dass nichts bleibt wie es ist. So werden ausgrenzende Hierarchien zur Hierarchielosigkeit und wieder zu Hierarchien, die nach dem Wandel nicht mehr die gleichen Hierarchien sind wie davor. Sie besitzen jetzt zum Beispiel keinen unendlichen Geltungsbereich mehr und können dadurch Abhängigkeiten in der Wirklichkeit darstellen, die endliche Wirkungsradien aufweisen.

Wer Erkenntnismittel in einer Weise verwendet, dass die Entwicklung in unendlich kleine Teile "zerlegt" wird, für den verändert sich die Natur nur stetig. Wer solche Erkenntnismittel wählt, bei denen Teile zu einem Ganzen unveränderlich "zusammengeschweißt" werden, der kann, damit eine Darstellung der Entwicklung möglich ist, nur "Brüche" zwischen dem einen Ganzen und dem folgenden Ganzen zulassen. Dann verändert sich die Natur nur sprunghaft.
    Hier zeigt sich, dass die verwendeten Erkenntnismittel und die damit erzeugten Vorstellungen nicht zu trennen sind und damit wie Ort und Impuls in der Quantenphysik "verkettet" sind. Das mag der Erkenntnisprozess behindern, aber eröffnet andere Einsichten: Die Vorstellungen über den stetigen oder den sprunghaften Verlauf enthalten keine Aussagen über die Wirklichkeit, sondern stellen Grenzen dar, zwischen denen sich eine so verstandene Evolution vollzieht.
    Ein Hammer wird zum Einschlagen von Nägeln genutzt und eine Zange, um die Nägel herauszuziehen. Zur Not lässt sich auch mit einem Hammer ein Nagel herausholen und mit einer Zange ein Nagel einschlagen. Aber es kostet viel mehr Zeit, als wenn die Werkzeuge adäquat oder zweckgemäß eingesetzt werden. Die Verwendung von Erkenntnismitteln in einem begrenzten Geltungsbereich entspricht dem zweckgemäßen Einsatz von Werkzeugen.
    Für komplexe Aufgaben werden mehrere Werkzeuge oder mehrere Erkenntnismittel benötigt. Der Unterschied zwischen der Nutzung von Werkzeugen und Erkenntnismitteln besteht darin, dass mit den Aussagen, die außerhalb der Geltungsbereiche der Erkenntnismittel erzeugt werden, die Wirklichkeit nicht erkannt werden kann. Dies wird in heutigen Theorien nicht berücksichtigt.
    Da lob ich mir den Wandel, der sich im Wechsel von einem Moment einer vielschichtig verstanden Evolution zum nächstfolgenden oder zum nächstliegenden Moment zeigt. Der Einsatz der Erkenntnismittel wird in jedem dieser Momente neu begründet, so wie für bestimmte Aufgaben bestimmte Werkzeuge verwendet werden.

So wäre in der Tat das "Denkwerkzeug" - ein vielschichtig verstandener Wandel - ein Anfang, um eine so verstandene Evolution zu begründen.

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